Labels

abram terz aerztepfusch afrika agnostizismus alkohol alles anarchie arbeit archaeologie aristophanes arno schmidt asteroid atheismus atom auftrag automne Barer80 beckett bernhard bernsteinaugen bestiarium betonieren bismarck blind bluemchen bohemia böhmisch bonaparte Boris Vian brecht brechung brigitte hamann brownsche bewegung bruch buchdeckel buergi bus cafe chateaubriand clark terry cooper daemonen dehnung die fremden diotima doderer dunkle materie eichinvarianz einstein ellington erkennen erotik etym evidenzbüro explosiv faltenwurf fass fermat ferne fische fliegen fontane Form fouque franco franzblei gaensebluemchen gasli gauss gefuehl generator gewerkschaft glueck goethe gott würfelt gradient gratis guertel gurke hamiltonsches prinzip hampelmann hausmeister heimat heisenberg herbst hermite herr fischer hezekiel Himmel hoelderlin hoererin holzfaellen holzfällen hysterie ig farben ishiguro james williams jazz jean paul jungfrau Kant Karl Hagemeister käthchen kauff keilschrift kepler kierkegaard kleist Klopstock kommentar konstruktivismus kosmologie krieg kriegsdienstverweigerer kuk Kundenreaktionen laster Licht- und Schattenton liebe lilienthal lilienthal 1801 lobby logarithmus logik lyrik maennlich massenbach matrix may mehrwert menschenrechte methode der kleinsten fehlerquadrate mikroperverrs Monade mord mulgrew miller müll reden musil nachrede nackig naehe naehe ferne richtung nat king cole naumann newborn niebelschütz nivea oel oersted pedersen oetv olbers oppermann organisation orpheus paris partei party peking peter hacks pflicht philologie physik plagiat planetoid plasma pocahontas poetik positiv preussen privatier programm prolet prony prosa rathenau rechner revolution rhetorik rhythmus richtung ringelnatz rio reiser roda roda rotverschiebung schach schauerfeld schnabel schroeter schulden schwarzes loch seume simenon sirene Socialist sommerfeld sozialismus Spatz spontan sprachzerstörung standardmodell stifter störche strayhorn streik suche sucht sukultur suttner swing symmetrie technik telegrafenmast terror thermodynamik Thomas Mann timmons tortilla trance traum triage triage trivium trivium turing u-bahn unernst ungenau untergrund vega verbrecher virgen virialsatz voegelchen wahrheit wasserstraße wehner welle wieland willen windmuehlen wittgenstein wolf wollen woolf wunderchen würfel zeitfaltung zeitung zettel zettels traum zirkulär zufall zuse zweischneidig

30. Januar 2018

Antigonus und Philaminte

Jedes Kunstwerk muß exemplifizieren, den Gehalt haben, muß in seiner Einmaligkeit die Einheit und Universalität des Gesamtgeschehens aufweisen können. Wir wollen uns daher keiner zufällig durch die Zeitung oder von der Phantasie uns zugewehten Geschichte hingeben, sondern uns diese in bewußter Konstruktion selber herstellen. Annehmend, daß Begriffe mittlerer Allgemeinheit eine allseitige Fruchtbarkeit zeitigen, sei der Held im Mittelstande einer größern Provinzstadt, sagen wir etwa in der Person eines Gymnasialsupplenten lokalisiert. Soferne derselbe Mathematik und Physik unterrichtete, kann vorausgesetzt werden, daß er diesen Beruf aus einer kleinen Neigung und Begabung zur Auflösung näherer Probleme erwählt habe, denen er in eigenen Studienjahren mit schöner Hingabe, roten Ohren und einem kleinen Glücksgefühl im klopfenden Herzen oblegen haben dürfte, ohne allerdings die Erstellung weiterer und höherer Aufgaben und Prinzipien zu bedenken oder zu erstreben, wohl aber mit der Ablegung der Lehramtsprüfung einen logischen, definitiven und bürgerlichen Abschluß findend. Es paßt in den solcherart imaginierten Charakter, daß er die Formen des Lebens mit der gleichen Selbstverständlichkeit hinnehme wie die Formeln der Mathematik: beide als seiende Dinge, über deren Realität man sich keine weiteren Gedanken zu machen hätte, denen Fiktivität zuzumuten verwunderliche Schrulle wäre und deren einzige Problematik in gewissen Schwierigkeiten ihrer Kombinationsfähigkeit, das heißt Auflösbarkeit sich dartue. Die Einteilungsfähigkeit und -aufgabe der rechnerischen und erlebten Materie war ihm stete Sorge, aber auch interessiertes Vergnügen, und immer darauf erpicht, daß »es genau ausgehe«, hatte er zu den Fragen seiner sogenannten Wissenschaft dasselbe Verhältnis wie zu denen seiner Stundeneinteilung, seiner Geldsorgen und denen jener Lebensfreude, die ihn als solche gar nicht berührte, die er aber irgendwie mitzumachen sich verpflichtet fühlte, da sie von den Kollegen anerkannt wurde, mithin ein seiendes Ding darstelle, dessen Forderungen zu erfüllen waren. Er trank ohne sonderliches Behagen Bier, besuchte nachher das öffentliche Haus, hatte Wege zum Spezialarzte, gab Stunden, fuhr auf der Straßenbahn, stand im Laboratorium, fraß in den Ferien an Mutters Tisch, schwarze Nägel zierten seine Hände, rötlichblonde Haare seinen Kopf, von Ekel wußte er wenig, Linoleum schien ihm ein günstiger Bodenbelag.
Eine solche Existenz, vollständig determiniert von den Dingen einer ebenen Außenwelt, in der kleinbürgerlicher Hausrat und Maxwellsche Theorie einträchtig und paritätisch durcheinanderstehn, muß als Minimum von Persönlichkeit angesehn werden, so daß sich mit Recht die Frage erhebt, ob ein solches Non-Ich Gegenstand menschlichen, geschweige denn novellistischen Interesses sein dürfe, da man ja sonst ebensowohl die Geschichte irgend eines toten Dinges – sagen wir beispielsweise einer Schaufel – entwickeln könnte.
Dieser Einwand ist um so berechtigter, da nicht einzusehn ist, wie sich die Verhältnisse mit Ablegung der Lehramtsprüfung wesentlich ändern sollten. Wohl mußten im Kopfe des Helden – Namen tun nichts zur Sache, er heiße also Antigonus – doch auch irgend welche eigene Gedanken gewesen sein, umsomehr als die kleine Denkbegabung zur Mathematik unleugbar vorhanden war, aber sie blieben an das hier und jetzt Gegebene gebunden. Immerhin verdichtete sich dieses Denken zur Zeit der Examina zu gewissen Zukunftshoffnungen und vagen Bildern: er sah sich im eigenen Heim, sah, wenn auch ein wenig schwankend, das künftige Speisezimmer, aus dessen abendlichem Dunkel die Konturen eines schön geschnitzten Anrichteschrankes und der grünliche Schimmer des wohlgemusterten Linoleumfußbodens deutlicher sich abhoben. Auch ließ das Futurum exactum dieser Formungen ahnen, daß in jener Wohnung eine Hausfrau vorhanden zu sein haben werde, was jedoch alles, wie gesagt, schemenhaft blieb. Die Erheiratung einer Frau war ihm im Grunde genommen unvorstellbare Angelegenheit: wenn ihm auch beim Bilde der zukünftigen Hausfrau gewisse erotische Schwaden durchs Gehirn zogen und etwas in ihm meckerte, daß er deren Unterkleidung so genau kennen werde, mit allen Fleckchen und Löchern, wie seine eigene, wenn ihm also jenes Weib einmal als Mieder, einmal als Strumpfband angedeutet wurde – dies auszudrücken, vermöchte eine hierherzusetzende Illustration Kokoschkas – so war es ihm anderseits undenkbar, daß ein konkretes Mädchen oder Weib, mit dem man normale Dinge in normaler Syntax reden könnte, irgendeine sexuelle Sphäre hätte. Frauen, die sich mit derlei beschäftigten, standen völlig abseits, keinesfalls niedriger als jene, aber in einer völlig andern Welt, die mit der, in der man lebte, sprach und aß, nichts gemein hatte: sie waren andere Lebewesen fremdester Konstitution, die stumme oder zumindest unbekannteste irrationale Sprache redend sich vorzustellen ihm nahe lag. Denn wenn man – ohne auch gerade biervoll zu sein – zu diesen Frauen gelangte, so geschahn die Dinge mit großer zielbewußter Fixheit, und niemandem wäre es beigefallen, etwa über Staubtücher – wie seine Mutter – oder über diophantische Gleichungen – wie die Kolleginnen – zu reden. Es erschien ihm daher unerklärlich, daß es je einen Obergang geben könne von diesen rein objektiven Themen zu jenen subjektiven, es war ihm dies ein Hiatus, dessen Entweder-Oder (ein Urquell alles Sexualmoralismus) sich übrigens gleicherweise in der Wedekindschen Psyche leicht aufweisen läßt.
Wenn wir also Antigonus in die Konstruktion einer erotischen Begebenheit hineinsetzen wollten, so dürfte sich die Möglichkeit ergeben, daß er im Dilemma seiner Determinanten jene voluntaristische Entscheidungsfähigkeit eines verantwortlichen Ichs erlange, die ihn zu novellistischer Heldenhaftigkeit eben doch berechtigen würde.
Vorderhand geschah natürlich nichts dergleichen. Antigonus legte die Examina ab, erhielt eine Supplentenstelle mit dem Auftrage, sein nunmehr abgeschlossenes Wissen weiterzugeben, was ihm unschwer gelang, denn dieses war ihm, wie bereits berichtet, in keiner Weise persönliche Angelegenheit, sondern eben ein Paket, das nunmehr säuberlich abgeschnürt und handlich sowohl dorthin als daher gelegt werden konnte. Aus der gleichen Vorstellung heraus gab er dem Schüler kleine Paketchen seines Wissens, und dieser mußte sie ihm in Gestalt von Prüfungsergebnissen wieder zurückgeben. Wußte der Schüler nichts zu antworten, so bildete sich Antigonus die wenn auch nicht klare Meinung, jener wolle ihm sein Leihgut vorenthalten, schalt ihn als verstockt und war solcherart mit einem gewissen Temperamente an seinem Berufe beteiligt. Hatten die Schüler sein Wissen zur Leih, so war ihm jedes Klassenzimmer, in dem er unterrichtete, bald Aufbewahrungsort eines Stücks seines Ichs, gleich wie der Kasten in seinem kleinen Monatszimmer, der seine Kleider beherbergte und die er sinngemäß als ebensolche Teile selbigen Ichs rechnete. Fand er in der Tertia seine Wahrscheinlichkeitsrechnung, zu Hause im Waschtisch seine Schuhe vor, so fühlte er sich unzweideutigerweise der Umwelt gegeben und verknüpft.
Solches Leben währte einige Jahre. Hierauf trat die von uns als notwendig vorweggenommene erotische Erschütterung ein. Um nicht fernab zu schweifen, gesellen wir Antigonus ein naheliegendes Komplement bei, nämlich seiner Hauswirtin Töchterlein, das einem meiner Freunde zuliebe Philaminthe genannt sei.

Es entsprach der Weibauffassung des Antigonus, jahrelang ohne irgendeinen Wunschgedanken neben einem Mädchen einherleben zu können. Ob dieses Negativum auch der Wesenheit des Mädchens entsprochen hatte, bleibt eigentlich irrelevant, denn Antigonus wäre sicherlich nicht der Mensch gewesen, ihr bürgerliches Seufzen zu verstehn, und da es ohne männlichen Angriff eben meistens nicht geht, so wäre ihr Begehren gewißlich in Kürze eingeschlafen. Es ist daher anzunehmen, daß Philaminthes Phantasie, gleichgültig ob sie sich jemals mit Antigonus befaßt hätte oder nicht, auf auswärtige Objekte gerichtet war, und man wird nicht fehl gehn, ihr romantischen Charakter zuzusprechen. Es ist beispielsweise in kleinern Städten üblich, täglich den Bahnhof zu besuchen, um den durchfahrenden Schnellzug anzustaunen, einer Sitte, der Philaminthe gerne folgte. Wie leicht ist es nun möglich, daß ein junger Herr, am Fenster des abrollenden Zuges stehend, dem nicht unhübschen Dinge zugerufen hätte: »Komm doch mit«, eine Begebenheit, die Philaminthe fürs erste in einen blöde lächelnden Pfahl verwandelt hätte, der nur mit schweren Füßen nach Hause gelangte, nachts aber sie von nun an immer häufiger träumen ließ, daß sie mit müden, ach so müden Beinen enteilenden Zügen nachzulaufen hätte, die auf Griffweite erlangbar in nichts versanken; blickte sie dann tagsüber von der Näherei auf, stundenlang den aufreizend unvollkommenen Zickzackflug der Fliegen um die Stubenlampe verfolgend, so erstand jene Bahnhofszene aufs Neue: es wurde ihr deutlich, daß sie wohl noch auf den abfahrenden Zug aufspringen, vielleicht eine rührende Verletzung bei diesem kühnen Sprunge davontragen hätte können, um sodann gebettet auf den weichen Polstern der I. Klasse und handgehalten von ihm in die dunkle Nacht hinauszufahren; Schaffner hätte sich, nachdem er Buße für die fehlende Fahrkarte samt reichlichem Trinkgeld erhalten, unterwürfig zurückgezogen, und es blieb nur offen zu überlegen, ob im entscheidenden Augenblicke die Notbremse ihrer Ehre erreichbar gewesen wäre oder nicht, da beide Alternativen atembeklemmende Möglichkeiten boten. In solcher Sphäre lebend, hatte sie also wenig Sinn für Antigonus, denn wenn sie auch nicht seine grau-gestrickten Socken, die sie ausbesserte, gestört hätten – auch den Schnellzugsgeliebten würde sie wohl nicht anders als grausockig präzisiert haben, wenn sie sich die Frage überhaupt vorgelegt hätte –, so stand doch fest, daß Antigonus seine Sonntagsausflüge mit Rucksack und Gamsbart IV. Klasse besorgte, und selbst der Hinweis auf die Pensionsfähigkeit seiner Laufbahn hätte nicht vermocht, ihr Blut rascher fließen zu lassen.
So versteht es sich, daß diese beiden Menschen nur aus raumzeitlicher Zufälligkeit aneinander geraten konnten, daß in grob-materialer Dunkelheit sich ihre Hände aus wirklichem Zufall begegneten und daß das Begehren, das jäh zwischen Männer- und Frauenhand da emporflammte, zu ihren eigensten Erstaunen es tat. Sie sprach die reinste« Wahrheit, als sie, an seinem Halse hängend, wiederholte: »ich wußte ja nicht, daß ich dich so lieb habe«, denn das konnte sie vorher wahrlich nicht wissen.
Antigonus fand sich durch den neuen Sachverhalt einigermaßen beunruhigt. Er hatte nun den Mund stets voll Küssen, und stets sah er die Türwinkeln ihrer Umarmungen, die Bodenstiege ihrer raschen Zusammenkünfte vor sich. Schläfrige Pausen erlebte er am Katheder sitzend, kam mit dem Lehrstoffe nur ruckweise vorwärts, hörte den Prüflingen nur zerstreut zu und schrieb indessen »Philaminthe« oder »ich habe dich lieb« aufs Löschblatt, dies jedoch keinesfalls in normaler Buchstabenfolge, sondern er verteilte, damit des Herzens Geheimnis sich nicht verrate, die Buchstaben nach willkürlich erklügeltem Schlüssel über das ganze Löschblatt, wobei die nachträgliche Wiederzusammensetzung der magischen Worte ein zweites Vergnügen an ihnen darstellte.
Wenn er dabei Philaminthes über alle Maßen gedachte, so sah er sie allerdings nur in ihrer flüchtigen Geschlechtsbereitschaft. Hinter den Türen Geliebte, in der Öffentlichkeit neutrale Gesprächspartnerin – das heißt, man sprach vom Essen und der Häuslichkeit –, war ihm das Mädchen doppeltes Lebewesen geworden, und während er des einen Namen sehnend aufs Löschpapier malte, war ihm das andre gleichgültig wie ein Möbelstück.
Philaminthe, dieserhalb weniger punktuell veranlagt, faßte eines Tages ihre Erkenntnis in die glücklich gefundenen, glücklich gewählten Worte: »Du liebst nur meinen Körper«, und wenn sie auch zwar nicht recht wußte, was sonst Liebenswertes an ihr zu finden wäre, ja wenn sie sich – und da kann Wedekind wieder als Zeuge angerufen werden – auch wahrscheinlich jede andre Art Liebe verwundert verbeten hätte, so war dies weder ihr noch ihm bekannt, und beide empfanden die aufgeworfene Tatsache als Kränkung.
Antigonus nahm sichs zu Herzen. Hatte ihr Liebesspiel bis jetzt erst nachmittags begonnen, wenn er aus der Schule heimkehrte und die Mutter ausgegangen war, während stiller Übereinkunft gemäß der Morgenstunden relative Ungewaschenheit von dieser ästhetischem amourösen Tätigkeit ausgeschlossen geblieben war, so bemühte er sich nunmehr, die Universalität seines Liebens durch dessen Ausdehnung auf sämtliche Tagesstunden zu beweisen. Nie verabsäumte er in der Folge, den ihm knapp vor dem Schulgange gebrachten Kaffee rasch schlürfend, ihr einige innige und leidenschaftliche Worte zuzuraunen, und die Zusammenkünfte auf der Bodenstiege, früher bloß ein eilendes und ununterbrochenes Finden von Mund zu Mund, wurden nun vielfach zu einem sinnigen, stummen Aneinanderpressen und Handverschränken verwendet. Auch sie schien Zugang zu seinem Geiste zu suchen: korrigierte er abends seine Hefte und waren sie allein zu Hause, so wurde diese Zeit oft nicht mehr zu tollen Umarmungen verwendet, sondern sie nötigte ihn bei seiner Arbeit zu bleiben, die er unter der Petroleumlampe am Speisezimmertische ausführte, räumte inzwischen im Halbdunkel beim schöngeschnitzten Anrichteschranke und kam nur manchmal zu ihm, seinen blonden unter der Lampe gebeugten Scheitel, der wenigen Haarschuppen nicht achtend, zu küssen oder, Hand auf seiner Schulter oder Schenkel ruhend, sich still und traulich zu ihm zu setzen.
Wir wollen nicht rechten, ob die Mutter im Hinblick auf seine Pensionsfähigkeit häufig genug abwesend war, denn weder Antigonus noch Philaminthe dachten in ihren Seufzern vorderhand an bürgerlichen Segen, vielmehr hegten sie eine panische Furcht vor plötzlicher Heimkehr der Alten, hatten für diesen Augenblick immer einen genau festgelegten Sitz- und Beschäftigungsplan parat, um den Kupplerblick, soferne die abgearbeitete Alte einen solchen gehabt hätte, was aber schließlich doch nicht unwahrscheinlich gewesen wäre, mit Harmlosigkeit aufzufangen.
Es war also keineswegs Angst vor der Ehe, deren Joch er in seiner Liebesbereitschaft sogar willig akzeptiert hätte, die ihn in einen Zustand des Unbehagens brachte, sondern wir müssen, soferne wir die Setzung dieses Unbehagens gelten lassen, uns der schematischen Weibauffassung erinnern, in der Antigonus früher lebte, um zu verstehn, daß ihm die neue Sachlage nicht sonderlich adäquat sein konnte und daß sich Komplikationen ergeben werden. Es könnte beispielsweise Antigonus an seiner steten Aufgabe zur Gefühlssteigerung, an seiner unausgesetzten Spannung, das »ich-hab-dich-lieb«, das beim ersten Kusse zwar erstaunlich aber immerhin einfach ins Wort trat, jetzt mit einem Pathos erfüllen zu müssen, dessen Arsenal keineswegs einfach zu handhaben war, glattweg ermüden und sich aus seiner komplizierten Hingabe nach jenen einfachen und ruhigen Formen der Liebe sehnen, die einst die ausschließlichen für ihn waren; ein Augenblick der Hemmungslosigkeit könnte bald eintreten, und Antigonus würde fliegenden Pulses zum Ziel der Sehnsucht seiner niedrigen Lüste enteilen, um allerdings allsobald, im gleichen Tempo und in schweigender Angst vor dem Spezialarzte, zu Philaminthe zurückzujagen, die Sprachlose mit der Erzählung einer romantischen Verführung – die Frau eines Generals zog ihn in ihr Haus und Schlafgemach – imponierend zu überrumpeln. Wir wollen den sich anschließenden atemlosen Dialog Heinrich Mann überlassen und uns nach andern Kombinations- und Entwicklungsmöglichkeiten umsehn.
Antigonus malte nach wie vor Philaminthes Namen auf Löschblätter, doch ohne Teilnahme, setzte das Wort auch nicht wieder aus kunstreicher Zersplitterung zusammen, sondern verfolgte mit gereizter Aufmerksamkeit die Schüler, die weniger denn je wußten. Die Anspannung seiner Gefühle hatte ihm den Begriff des Seienden verschoben: lag es früher in seinem kleinen Wissen, das er mit den Schülern tauschte, in den Kleidern, die er in bestimmter Ordnung anlegte, in der pflichtgemäßen Rangordnung, in der er mit Vorgesetzten und Gleichgestellten zu verkehren hatte, so hatten diese unzweifelhaft berechtigten Belange nunmehr unliebsamerweise in seinem Ich keinen Platz mehr: Philaminthens Aufgaben, die er eben wie jede andere voll auf sich genommen hatte, war eine Unendliche, denn mehr als ihren Körper lieben, hieß nach einem unendlich fernen Punkte streben, und dies zu vollziehen, bedurfte es aller Kräfte der armen, erdgebundenen Seele. Und muß diese das aufgeben, was ihr wirkliche Welt bedeutete, also ihr ausgebreitetes metaphysisches Werterlebnis, so ist sie leicht geneigt, nicht nur sich selbst, sondern auch das ganze wunderbare Phänomen ihres bewußten Seinsbestandes zu entwerten und zu negieren.
Alles Unendliche ist einmalig und einzig. Und da des Antigonus Liebe sich bis ins Unendliche projizierte, wollte sie auch einzig und einmalig sein. Dem aber stand die Bedingtheit ihres Werdens gegenüber. Nicht nur, daß er zufällig gerade an das Gymnasium dieser kleinen Stadt versetzt wurde, nicht nur, daß er zufällig gerade bei Philaminthens Mutter Zimmerherr werden mußte: es war die wahllose Zufälligkeit des so plötzlich perfektionierten Liebesbeginns, die er nunmehr als Ungeheuerlichkeit empfand, und die Erkenntnis, daß das Begehren, das damals zu ihrem Erstaunen in ihren Händen emporschoß, das gleiche sei, das er in den Armen jener Frauen erlebte, die er jetzt als Huren beschimpfte. Doch hätte er sich über diesen Mangel an Einmaligkeit, so sehr er ihn auch wirklich schmerzte, von seiner Seite schließlich hinweggesetzt, wenn er ihn nicht folgerichtigerweise auch bei Philaminthen hypostasieren hätte müssen. Denn das Subjekt kann in seinem Streben nach Unendlichkeit zu eigenerlebter, einmaliger Universalität vielleicht wachsen, seinen objektiven Gegenpol zu gleicher Größe zu erweitern, bedarf es aber einer Phantasie, die wohl Dante, jedoch kaum Gabriel Rossetti, zum wenigsten Antigonus, aufbrachte. Dies heißt aber, daß er die Flamme des Begehrens stets um Philaminthens Händen sah und, obwohl ihrer Treue sicher, an der Möglichkeit ihrer Untreue leiden mußte und sicherlich tiefer als er es in jedem materialen Fall vermocht hätte.
So wurde er nicht nur in der Schule unleidlich, sondern auch dem Mädchen gegenüber. Setzte sie sich, ihrer Gartenlaubenhabitüde folgend, traulich zu ihm, so riß er sie manchmal an sich, biß ihr die Lippen wund, um sie einandermal wieder ungelenk wegzustoßen; kurz, er äußerte alle Ungezogenheiten der Eifersucht in ihrer rüpelhaftesten Form. – Es muß eigentlich nicht eigens erzählt werden, denn es versteht sich von selbst, daß Philaminthe schon längst, in Mutters Eßzimmer, Antigonus' Geliebte geworden war. Wenn sie damals ihre letzte Gunst, wie sie das nannte, was in Ansehung des von allem Anfang an als selbstverständlich Gewährten eher als symbolische Besitzergreifung zu bezeichnen wäre, wenn sie diese letzte Gunst auch lange hintangehalten und sich eigentlich erst gegeben hatte, als er, um ihr eben zu beweisen, wie seelisch er liebe, keinerlei diesbezügliche Wünsche und Gesten mehr äußerte, so lag es jetzt auf dem Wege ihrer gradlinigen Phantasie, daß sie, keiner Schuld sich bewußt, die Krise, die sie mit Verständnislosigkeit an ihm bemerkte, durch die verpönte körperliche Liebe zu heilen suchte, ihm eifrig das entgegenbringend, was sie sonst, schelmisch erhobenen Fingers, ihm so gern verzögerte. Die Arme! sie wußte nicht, daß sie damit nur Öl ins Feuer goß. Denn wenn Antigonus die sogenannte Gunst auch nicht verschmähte, so war es nachher um so ärger, denn umso klarsichtiger erkannte er, daß das ihm Geschenkte ebensowohl und mit gleicher Leidenschaft jedem andern hätte zu Teil werden können.
Er hatte sich nie mit andern verglichen, hatte stets seinen Unwert nur an der Unendlichkeit seiner Aufgabe gemessen. Nun sah er auch mit Schrecken, daß eine Unzahl junger und eleganter Männer durch die frühsommerlichen Straßen sich bewegten, und nie verließ ihn mehr der Gedanke, daß jene mit Leichtigkeit und im Meßbaren bleibend, lächelnd über ihn, den Über-sich-ausholenden, nicht nur Philaminthens, nein aller Frauen Liebe genössen, die allesamt für ihn bis jetzt unberührbar, doch nichts anderes seien als schlechte Weiber.
Zu ihr zurückkehrend, würgte er sie am Halse mit der Motivierung, niemand, hörst du, niemand könne und werde sie je so lieben wie er, und die Tränen des entsetzt geschmeichelten Mädchens, dessen romantischer Sinn die Situation bejahte, flossen mit den seinen zusammen, beschließend, daß nur der Tod von solcher Qual erlösen könne.
Philaminthens Phantasie nahm das Wort des Sterbens auf und wandelte die Vorzüge der Todesarten ab. Die ungestümen Formen ihrer Liebe forderten ein großes Ende, und sie hätte sich nicht gewundert, hätte ihnen Edschmid 16 gedungene Mörder auf den Leib geschickt. Da dies jedoch nicht geschah und sich auch nicht die Erde zu erwünschtem Beben öffnete, noch der Hügel vor der Stadt Lava zu speien anfing, vielmehr Antigonus trotz schmerzverzerrter Miene täglich zur Schule wandelte und sie schon voll blauer Flecke war, vermochte sie ihn, ein Ende zu bereiten, daß er einen Revolver erstünde. Er fühlte, und wir, die wir es herbeiführen, mit ihm, daß damit die Würfel gefallen seien. Mit trockenem Munde, feuchten Händen betrat er das Waffengeschäft, stotternd das Verlangte bezeichnend und gleich sich entschuldigend, daß er solches zu seiner Verteidigung auf einsamen Wanderungen benötige. Mehrere Tage hielt er seinen Kauf verborgen, und erst, als sie, eines Morgens den Kaffee bringend, ihm mit zurückgeworfenem Kopfe zuflüsterte: »Sage mir, daß du mich liebst«, legte er ihr zum Beweise die Waffe auf den Tisch.
Nun erfolgten die Dinge mit großer Eile. Den nächsten Sonntag trafen sie sich, sie einen Besuch bei einer Freundin vorschützend, wie so oft, im Nachbarorte zu gemeinsamer Wanderung. Ein letztes Mal sich in den Armen zu ruhen, hatten sie einen verschwiegenen Waldplatz mit schöner Fernsicht auf Berg und Tal gewählt, dem sie nun zustrebten. Aber der Blick, dessen Weite sie sonst als schön bezeichneten, sagte ihnen in ihrer Beklommenheit nichts mehr. Sie durchstreiften bis in die Nachmittagsstunden ziellos den Wald, hungrig, da das Essen nicht zum Tode paßte, und ruhten endlich wahllos und erschöpft zwischen den Büschen. »Es muß sein«, meinte Philaminthe, und Antigonus zog die Waffe hervor, lud sie behutsam, legte sie vorsichtig neben sich nieder. »Tu's rasch«, befahl sie und schloß in letztem Kusse die Arme um seinen Hals.
Über ihnen rauschten die Bäume, Licht brach in kleinen Flecken durch leichtbewegte Buchenblätter, und weniges sah man vom wolkenlosen Himmel. Der Hand erreichbar lag der Tod, man mußte ihn bloß aufnehmen, jetzt oder in zwei Minuten oder in fünf, man war völlig frei, und der Sommertag war zu Neige, ehe ihn die Sonne verblaßte. In einer einzigen Handbewegung konnte man die Vielheit der Welt erledigen, und Antigonus empfand, daß sich eine neue und wesentliche Spannung zwischen ihm und jenem Komplexe auftat. Der Freiheit eines einigen und einfachen Entschlusses gegenüber wurde auch dessen Willensobjekt zur Einheit, wurde rund und schloß sich in sich, handlich in seiner Totalität wurde es problemlos und ein Wissen der Ganzheit, wartend, daß er es aufnehme oder wegstelle. Eine Struktur absolut ausgehender Ordnung, gelöster Klarheit, höchster Realität ergab sich, und es wurde sehr licht in ihm. Fernab rückte der Totaleindruck der Welt, und mit ihm versank das Gesicht des Mädchens unter ihm, doch verschwanden sie keineswegs völlig; vielmehr fühlte er sich jener Weltlichkeit und dem Weibe intensiver gegeben und verknüpft denn je, erkannte sie weit über jede Lust hinaus. Sterne kreisten über dem Erleben, und durch den Fixsternhimmel hindurch sah er Welten neuer Zentralsonnen im Gesetze seines Wissens kreisen. Sein Wissen war nicht mehr im Denken des Kopfes; erst glaubte er die Erleuchtung im Herzen zu fühlen, aber sie dehnte sich, sein Ich mitweitend, über ihn hinaus, floß zu den Sternen und wieder zurück, erglühte in ihm und kühlte in sehr wundersamer Milde, öffnete sich und wurde zu unendlichem Kusse, empfangen von den Lippen der Frau, die er als Teil seiner selbst und doch schwebend in maßloser Entfernung erfaßte und erkannte. Denn das Ziel des Eros ist das Absolute, das erreicht wird, wenn das Ich seine brückenlose, hoffnungslose Einsamkeit und Idealität, über sich und seine Erdgebundenheit hinauswachsend, dennoch durchbricht, sich abscheidet und im Ewigen Zeit und Raum hinter sich lassend die Freiheit an sich erwirbt. Im Unendlichen sich treffend, gleich der Geraden, die sich zu ewigem Kreise schließt, vereinigte sich die Erkenntnis des Antigonus: »Ich bin das All« mit der des Weibes: »Ich gehe im All auf« zu letztem Lebenssinn. Denn für Philaminthen, im Moose ruhend, erhob sich das Antlitz des Mannes zu immer weitern Fernen und drang dennoch immer tiefer in ihre Seele, verschmolz mit dem Rauschen des Waldes und dem Knistern des Holzes, mit dem Summen der Mücken und dem Pfiff der Lokomotive zu einem rührenden und beseligenden Schmerze der vollkommenen Geheimnisenthüllung eines empfangenden und gebärenden Wissen des Lebens. Und während sie die Grenzenlosigkeit ihres wachsenden und erkennenden Fühlens entzückte, war ihre letzte Angst, solches nicht festhalten zu können: geschlossenen Auges sah sie vor sich, vom Rauschen und von Sternen umgeben, das Haupt des Antigonus, und ihn lächelnd von sich haltend, traf sie sein Herz, dessen Blut sich mit ihrer Schläfe vermischte. – – Es ist der anmaßende Irrtum der Naturalisten, daß sie den Menschen aus Milieu, Stimmung, Psychologie und ähnlichen Ingredenzien eindeutig determinieren zu können vermeinen. Wir wollen uns hier mit der materialistischen Beschränktheit nicht auseinandersetzen und bloß anmerken, daß der Weg Philaminthens und Antigonus wohl zur Ekstase hätte führen können, um in ihr den unendlich fernen Punkt eines außerhalb der Leiblichkeit und doch in ihr eingeschlossenen Liebeszieles zu finden. Da aber, wie gesagt, das Menschliche keineswegs eindeutig ist, so ist immerhin auch anzunehmen möglich, daß der Weg vom Schäbigen ins Ewige für Antigonus und Philaminthe vorzeitig abgebrochen worden wäre. Wenn auch die Todesbereitschaft als solche eine gewisse Katharsis bildet, deren logische Lösung und Folge als eine kleine spießbürgerliche Befreiung ihrer armen Seelen zu denken ist, als eine Festigung der Seinsanschauung aus Labilität ihrer kleinen Qual, so wäre, nachdem sich die Dinge zwischen den Gebüschen eben bloß in gewohnt plumper Ungelenkheit vollzogen hätten, nichts andres übrig geblieben als das soi disant natürliche Ende. Spät abends hätten dann Antigonus und Philaminthe den letzten Zug erreicht, um einem Brautpaare schon gleich in einem Wagen erster Klasse, Hand in Hand, der Heimat zuzueilen. Würden Hand in Hand vor die ängstlich harrende und erschreckte Mutter hintreten, und pathetischen Gestus des Nachmittages beibehaltend kniet der Pensionsfähige auf dem grünlich schimmernden Linoleumboden nieder, den mütterlichen Segen zu empfangen.
Jedes Kunstwerk muß exemplifizierenden Gehalt haben, muß in seiner Einmaligkeit, die noch durchaus nicht Eindeutigkeit sein muß, die Einheit und Universalität des Gesamtgeschehens aufweisen können. Wir haben uns nichts vorgeflunkert, haben unsre Geschichte nach ihren Möglichkeiten hin durchdacht und darnach gemeinsam konstruiert. Wir wollen uns gegenseitig nichts vormachen, wir wollen uns aber auch nicht verhehlen, daß unsre Geschichte sehr schön ist. 

Von Franz Blei.

15. Januar 2018

Primat im Herbarium

Der Schmidtarno ist ein rückschreitender Langaffe, der im evolutionär zurzurückgebliebenen südamerikanischen Urwald lebt. Er erklettert geschickt höchste Baumwipfel und hält apodiktisch Gesamtschau über sein Blätterreich ohne Bestätigung durch zeitgeschichtliche Gerüchte. Gleichzeitig hat er eine mächtige Auffassungsgabe und kennt in seinem Wald die Schiefsymmetrie Besonderheit jedes einzelnen Blattes zum andern im Sinne der Unterscheidbarkeit des Unterscheidbaren und ordnet sie in geodätisch gekastelten Parzellen seines Urwalds. In schmarotzerhafter Symbiose lebt mit ihm das faulige, winzige Kartoffelstempeltierchen der Fischers, Cottas und Rowohlts. In grazilen kleinrhythmischen Schwüngen hangelt er sich trickreich,in Pirouetten um seinen Rückwärtsgang zu kaschieren, von Baumast zu Baumast und kann so an beliebigen Punkten seines kollossalen Urwaldes unerwartet und fast gleichzeitig mehrfach aufscheinen. Dieser Affe erzählt im Gegensatz zu den dort lebenden Menschentieren keine Geschichten. Er teilt eine gewisse Affinität zu einem bierbrauenden und brotbackenden Land, das seit längerem untergeht. Er ist ausgesuchter Einzelgänger. Gesehen wurde er nur von ausgewählten Philologen. Er stößt unheimliche Schreie aus. Seine Haut verkauft er nur teuer. Er praktiziert ein determiniertes Sexualleben vor allem mit sich selbst und pflegt einen noch unerforschten Ahnenkult.




Blogverzeichnis - Bloggerei.de